Ich werde noch unfreiwillig zum Frühaufsteher. Ihr habt
richtig gehört, der Langschläfer schlechthin wacht morgens um 7 Uhr auf und
fühlt sich wach. Warum? Weil ich nach meine Touren meistens gegen 9 völlig müde
ins Bett falle. Da ist man dann etwas früher als sonst wieder wach.
Heute mache ich mich nach einem großen Frühstück auf zum Open
Air Museum in Shin-Sapporo. Stur und geizig wie immer, beschließe ich den Bus
zu sparen und von der Bahn-Station aus zu laufen. Ohne genaue Karte und jegliche
Vorstellung, wie weit der Weg sein würde. Eine Stunde später stehe ich dann
endlich vor dem Parkeingang. Die Sonne scheint gefährlich auf meinen
Sonnenbrand, also investiere ich in eine Danpa Mütze. (Da-n-pa… Pa-n-da… es hat
eindeutig zu lange gebracht, bis ich das verstanden habe).
Die Anlage ist riesig und wird um diese Zeit zum Glück nur
von Grundschulklassen und Rentnern umschwärmt. Ich liebe die alten Gebäude, die
größtenteils wirklich Orginalgebäude aus der Gründerzeit Sapporos oder sogar
aus älteren Orten Hokkaidôs sind. Ich kann mich auch mit den „westlich“
inspirierten Häusern anfreunden. Die haben schon ihren Scharm, auch wenn ich
bei ihrem Anblick sofort an Barbie-Traumhäuser denken muss. Nicht, dass ich
sowas je besessen hätte.
In einigen der Häuser haben sich Volontäre angesiedelt, die
den Besuchern den jeweiligen Wohnraum erklären wollen. Zumeist sind das
Rentner, die entweder eine spezielle Beziehung zum jeweiligen Verwendungszweck
des Gebäudes oder der Epoche haben.
Ein besonders redseeliger Herr in einer alten Hering-Fischerei
schenkt mir immer wieder Tee nach und erklärt so ziemlich jeden Balken in den
Wohnräumen. Das Haus gehörte einer reichen Familie, die für die Saison der Heringe
jeden Frühling bis zu 70 Saisonarbeiter aus allen Teilen Japans beherbergte.
Sie hatten anscheinend ein relativ effizientes System des Fischfangs. Nur dafür
brauchte man um einiges mehr Hände, als die normale Familie bereitstellen
konnte. 80% der gefangen Heringe wurden übrigens bis nach Ôsaka und Shikoku
verschifft. Die Saisonarbeiter kamen wohl, weil sie so viel Reis essen durften,
wie sie wollten. Dafür hatten sie als Schlafplatz nur eine Tatamimatte dicht an
dicht, zweistöckig, zur Verfügung. Und mussten ihren Futon selbst mitbringen.
Da unter den verzeichneten Arbeitern viele Japaner aus Akita oder noch weiter
im Süden zu finden waren, muss sich die Reise gelohnt haben. Der Familie ging
es augenscheinlich auch gut. Der Vater kaufte seinem Sohn sogar eine Orgel.
Soviel ist jedenfalls sicher: Ich weiß jetzt weit mehr übers Heringsfischen,
als ich jemals wissen wollte.
Das nächste ältere Ehepaar auf meinem Weg sitzt am See und
flickt Netze. Die Frau grummelt ein wenig vor sich hin, und meint dann, dass
sie ja nun schon 86 Jahre alt wäre. Sie habe immer schon Netze repariert, und
nun macht sie es eben für die Touristen. Und immer noch würde ihr Ehemann ihr
vorwerfen, es falsch zu machen. Dabei mache sie das doch nun schon seit fast 70
Jahren. Der Ehemann, seinerseits ruhig und etwas verschmitzt, meint daraufhin,
dass das ja trotzdem nix bringen würde, wenn sie es 70 Jahre lang falsch mache.
Hach, die beiden sind so drollig.
Ich treffe auch auf eine von Pferden gezogene Straßenbahn.
Das war das öffentliche Fortbewegungsmittel in Otaru. Und wirklich, die auf
Schienen laufende Bahn wird von einem weißen Pferd gezogen. Die Arbeitspferde
in Hokkaidô wurden anscheinend auf zwei Eigenschaften gezüchtet: Klein und
robust. Natürlich sind die Winzlinge kein Vergleich zu einem Granat oder einer
Limone zuhause, aber deutlich robuster als der gemeine Warmblüter sind sie
schon.
Etwas weiter weg von den Hauptwegen der Anlage treffe ich
dann kaum mehr auf Mitarbeiter, und betrete meist Mutterseelenallein die
Gebäude. Als ob so ein altes knarzendes Holzhaus nicht schon gruselig genug
wäre, treffe ich manchmal auf lebensechte Puppen, die plötzlich hinter einer
Ecke vor mir aufragen. Schreck lass nach! Doch das ist noch gar nichts, im
Gegensatz zu einem weiteren Feature, das dieses Erlebnis in den Augen der
Japaner noch „verbessern“ soll. Ich betrete ein Haus, und sehe bereits vom
Eingang her drei Puppen am Feuer sitzen. Soweit, so gut, denke ich mir, ihr
macht mir keine Angst. Als ich gerade genau vor ihnen stehe und meine Kamera zum
Foto hebe, erschallt plötzlich ein „Kontoshi samui da na…“ direkt hinter mir.
In einem völlig leeren, alten, knarzenden japanischen Holzhaus. Ich lasse
beinahe die Kamera fallen und versuche panisch die Quelle der nun drei Stimmen auszumachen. Erst, nachdem
sich mein Herzschlag wieder beruhigt,
wird mir klar, dass es ein bewegungsaktiviertes Band ist. Solche „Gesprächsfetzen“
sollen wohl die Atmosphäre der Gebäude und dargestellten Lebenssituationen noch
verstärken. Keine Ahnung, ob das für Japaner genauso nervenaufreibend ist, wie
für mich, aber ICH finde das NICHT atmosphärisch. Im Ernst, jede dieser Bandaufnahmen
hat mich bestimmt 2 Jahre meines Lebens gekostet. Und ihr hört da draußen jetzt
alle auf zu lachen!
Ich verbringe insgesamt fast 7 Stunden in der Anlage, und
habe dabei noch nicht mal Zeit, den großen Park, in den das Museum eingebettet
ist, zu besuchen. Seid also gewarnt, es sind über 200 Bilder von vorwiegend
Häusern und Inneneinrichtungen. Wenn ihr Glück habt, sind noch ein paar
Menschen drauf. Aber ich dachte mir, erstens können die Bilder vielleicht für
irgendjemanden als Referenzmaterial dienen, und zweitens will Josi ja ihren
Fernurlaub machen. Dafür brauchst du doch genug Eindrücke. Sind eigentlich
schon ein paar Karten von mir angekommen? Am Ende steht die Sonne dann auch
noch ziemlich schräg und macht ein paar nervende Lichtpunkte auf den Fotos.
Noch zwei
Tage in Sapporo, dann geht mein Flug
nach Shikoku. Morgen heißt es wohl Furano, und
Übermorgen Otaru.
Und dann hoffen wir, dass der Koffer nicht zu schwer für den Flug ist.
Ein kleines Schmunzeln ist aber doch sicher erlaubt (Bandaufnahme). Ich bewundere deine Ausdauer. 7 Stunden durch Gebäude zu wandern und sich deren Einrichtung anzuschauen. Ich glaube, ich hätte da schon nach spätestens drei Stunden kapituliert. Respekt!
AntwortenLöschenDeine Karten sind angekommen. Zumindest wurde mir das heute so berichtet auf Nachfrage. Alle auf einmal. Da ich dieses Wochenende endgültig meinen ganzen Krempel nach Berlin verlagere, bringt meine Mutter sie mir mit. Dann habe ich die Karten auch tatsächlich und nicht nur in der Überlieferung.
AntwortenLöschenDas Museum sieht ganz toll aus, das ist gleich auf meinem Reiseplan vermerkt. Die Puppen sind allerdings wirklich etwas gruselig. Insbesondere der manisch blickende Barbier war doch ziemlich angsteinflößend! Insgesamt sieht das Museum aber aus, als wenn Japan in der Meijizeit stecken geblieben wäre (architektonisch). Das war eine schöne Zeit (architektonisch!) Japans Städte wären vielleicht etwas weniger trist, wenn sie sich nach dem Krieg etwas aus dieser Zeit (Architektur) mitgenommen und nicht diese drögen Einheitsstädte gebaut hätten.